Es ist 3:26 Uhr. Eine Zeit die so nachts und doch so Tag ist. Die Bäcker backen ihre Brötchen, die Menschen können morgens ihre frischen Brötchen genießen.

Was treibt mich dazu um diese Uhrzeit einen Blogeintrag zu verfassen, der doch so anders wird als die bisherigen Einträge?
 
Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich dieses Thema hier zur Sprache bringen sollte. Oft schrieb ich Zeilen die mir so sehr am Herzen lagen und doch löschte ich sie erneut, erneut und erneut. Ist dies ein Blog in dem ich die Oberflächlichkeit des Seins beschreiben soll? Hier und da witzige Erlebnisse? All das was ein 20-jähriges Mädchen beschäftigt? Liebe, Arbeit, ihre Freunde und die Unarten des Lebens? Wo ist die nächste Party? Haben wir die Fotos auf Facebook veröffentlicht?
Ist dies mein Leben? Nein, das ist nicht mein Leben. Ich habe ein anderes Leben gelebt. Ein Leben das man nur verstehen kann, wenn man in dieser Welt lebt. Eine Welt voller naiver Freude und doch großer Drangsal und Leid. Eine Welt in der du mit gebeugter Haltung auf das Ende deines Lebens gewartet. Draußen heult der Sturm. Ich fürchte mich und hoffe das Gott mir dies verzeiht. Ich hoffe es so sehr. Ich hoffe er sieht das ich nichts Böses plane, das ich einfach nicht weiß wohin mit meinen Gedanken. Jeder kann meinen Blog lesen und man könnte fragen: Warum schützt sie ihr Innerstes nicht? ich habe es geschützt, doch es sitzt wie eine Bombe in einem eisernen Panzer...und ich werde innerlich explodieren.


Wie es begann
Ich bin geboren worden als eine Zeugin Jehovas. Meine Mutter lernte die sogenannte "Wahrheit" kennen als ich zwei Jahre alt war. Ich bin aufgewachsen in einer geschützten Gemeinde von lieben Menschen die mir alle als freundlich lächelnde Gestalten in Erinnerung geblieben sind.
Ich war ein Kind und habe mir über das was ich glauben "sollte" nie Gedanken gemacht. Es war so. Seit meinem 7. Lebensjahr ging ich an die Türen um fremden Menschen von meinem Glauben zu erzählen. Die Menschen waren meistens nett. Wer schreit schon ein kleines Mädchen an, wenn es einem lächelnd einen Flyer hinhält. Ab und zu bekam ich Bonbons von den Menschen. Und so fing ich an gerne in den Predigtdienst zu gehen, nichtsahnend wohin das noch führen sollte.

Älterwerden
Um so älter ich wurde um so mehr stieg der Druck. Bei den Zeugen hat man die Möglichkeit aufzusteigen und Karriere zu machen wie in einem Betrieb. Den Jugendlichen wurde eingeflößt das es nichts erstrebenswerteres gibt, als eine "geistige" Karriere zu starten und allen "weltlichen" Gütern zu entsagen. Der erste Schritt hieß sich taufen zu lassen. Dazu sei gesagt, das Zeugen Jehovas keine Kindertaufe durchführen. Jeder trifft die Entscheidung selbst ein Zeuge Jehovas zu sein und sich als solcher hinzugeben. Nur, wenn dein gesamtes Umfeld aus Zeugen Jehovas besteht, deine Freunde sind es, deine Eltern sind es. Wo liegt deine eigenständige Entscheidung? Als gutes Zeugenkind hatte man das zu tun und es wurde indirekt von einem erwartet es zu tun. Ich ließ mir etwas länger Zeit als die anderen. (Meine ehemalige Freundin ließ sich beispielsweise mit 11 Jahren taufen) Und als Fast-Spätzünder ließ ich mich mit 16 Jahren taufen. Ich dachte wirklich dies wäre mein Lebensweg. Ich ging mit wirklich reinen Beweggründen in dieses Bündnis. Doch dann wurde der Druck immer härter. Nun wurde von mir erwartet das ich mehr in den Predigtdienst gehe.
Das Predigtwerk der Zeugen ist straff organisiert und es wird knallhart nach Stunden abgerechnet die man dann auf einen Zettel zu notieren hatte und einem "Ältesten" überreicht. Die Stunden werden dann statistisch erfasst und die Zentrale in Selters weitergeleitet. Diese leiten die Deutschlandweit gesammelten Stunden an die Weltzentrale in Brooklyn (New York) weiter, die dann weltweite Jahresberichte herausbringt.
Ich war komplett in diese Welt eingebunden. Daher kann ich auch sagen, das es natürlich viele Lügen über Zeugen Jehovas gibt. Beispielsweise müssen Zeugen Jehovas NICHT Teile ihres Gehaltes abgeben. Aber wer sich über Ansichten usw. informieren möchte der findet ziemlich umfassende Berichte im Internet.


Wie der werte Leser sicherlich merkt, bin ich KEIN Zeuge Jehovas mehr. Ich wurde in einem ziemlich unfairen und grausamen Prozess ausgeschlossen. Ausgeschlossen. Das bedeutet, das all deine Freunde KEIN Wort mehr mit dir reden dürfen. Kein Kontakt, kein gar nichts. Blöd, wenn 95% meines Freundeskreises aus ihnen bestanden.
Seit ich ausgeschlossen bin, denke ich viel über mein Leben nach und langsam rehabilitiere mich. Es ist komisch, wenn du dein Facebookkonto, mit deinen alten Freunden, komplett löschst. Es ist als würdest du ein Leben löschen, dich selbst und das was du dachtest das du warst. Seit dem frage ich mich oft wer ich bin. Und wohin ich gehöre.
Ich habe mich bei den Zeugen Jehovas immer fehl am Platz gefühlt. Meine Freunde opferten ihre Freizeit, ihre Freunde, alles um so viele Stunden wie möglich predigen zu gehen. Ich dagegen verspürte nie die Motivation zu Fremden zu gehen und ihnen etwas über meine Glaubensansichten aufzuzwingen. Ich verspürte nie das Bedürfnis ins Ausland zu gehen um Ureinwohnern von meinem Glauben erzählen. Ich wollte nicht mit 18 irgendeinen Deppen heiraten um Sexuelle Erfahrung zu sammeln. Ich wollte leben, atmen, lachen, lesen und einfach mal, einfach mal unbeschwert sein. Ich werde nie unbeschwert sein. Den Gott den ich kennengelernt habe, der wollte anscheinend, das ich Tag für Tag mir über das Ende der Welt Gedanken mache. Immer in dem Erwarten leben, das alles den Bach runtergeht. Immer sich selbst in Zweifel ziehen. Denn es hieß stets: Du glaubst das Gott dich liebt? Wer weiß ob er dies tut? Vieleicht sündigst du so schlimm, das er dies nicht tut. Alles Gute das du von der Welt bekommst ist vom Teufel. Alles, alles ist schlecht und widerlich.
Im Moment lese ich Siddartha von Hermann Hesse (ein wunderbares Buch). Dort wird beschrieben, das das Entsagen von schönen Dingen, von Lust und Heiterkeit nicht zur inneren Erfüllung dient, sondern nur zur Betäubung des eigentlichen Ichs führt. Dein Ich wird letztlich immer wieder auf dich zurückkommen. Egal wie sehr du entsagst. Es verschlimmert die Symptome.
Dieses ist auch mir passiert. Ich begann mich für völlig natürliche Dinge zu schämen. Ich schämte mich für den Drang einen Partner zu haben, für meinen Drang nach Sexualität. Ich verbrachte den Tag damit mich für meinen Körper zu schämen. Denn es hieß: Kämpfe gegen dich an. Ich frage mich: Wenn Gott uns unsere Charakterzüge gegeben hat, wieso verlangt er das wir gegen uns selbst kämpfen? Das wir uns selbst hassen und uns letztlich schämen für das, was wir sind?
Etwas das mich noch störte, war das uralte System der Geschlechterrollen die bei den Zeugen Jehovas gang und gäbe ist. Die Frau ist so gut wie nichts wert. Während Männer die Möglichkeit bekamen Vorrechte zu erhalten, Vorträge zu halten, zu Ältesten geschult zu werden, ins Ausland zu gehen...die Liste ist einfach schier unendlich. Während wir Frauen in den Predigtdienst gehen "durften", und ich letztlich mit meinen Freundinnen auf der Stange gluckte und warten durfte das sich irgendeine Flachpfeife meiner erbarmt und mich zur Frau nimmt. Ich wusste innerlich das es meinen Untergang besiegeln würde, wenn ich JETZT heiraten würde. Ich beneidete die jungen Pärchen die einfach nur "zusammen" waren ohne Sorgen und ihr Verliebtsein genießen konnten. Paare wurden prinzipiell nach zwei Jahren Beziehung zum Gespräch gebeten um zu ergründen warum selbiges noch nicht verheiratet war.
Dieses System der Kontrolle durch Menschen, vor denen du DEIN handeln rechtfertigen musstest, wenn es auf der anderen Seite hieß das der einzige vor dem man sich rechtfertigen muss, Gott ist, ließ mich stutzig werden.
Ich begann ziemlich zynisch zu werden. Und mir so meine Gedanken zu machen. Ich betrachtete meine Freunde voller Argwohn wenn mal wieder diskutiert wurde wessen Rock 2 cm zu kurz geraten war. Meine Zuneigung zu diesen Menschen ließ immer mehr nach, ich kapselte mich ab. Bis mich eine "gute Freundin" fragte was los sei. Und ich vertraute ihr meinen Kummer an, in der Hoffnung auf Verständnis zu treffen. Daraufhin wurde ich fertiggemacht und mir gesagt, ich solle mich gefälligst zusammenreißen weil X und Y sich auch zusammenreißen und wahrscheinlich als alte Jungfern enden werden. Da regte sich mein Widerwillen. Ich spürte schon da, das ich als Individuum nichts gelte. Das meine Gefühle nichts galten. Ich hatte mich zusammenzureißen. So wie alle dies taten. Meine Mutter schlug mich als ich ihr erzählte, das ich für einen Jungen aus der Klasse schwärmte. Und sie sagte mir: Ich hoffe es wird sich niemals jemand für dich interessieren. Jede Kleinigkeit die ketzerisches Verhalten offenbarte wurde den Ältesten gepetzt, und so saß ich oft da und musste mich irgendwelchen Verhören stellen.
Irgendwann hatte ich nur noch eine Maske auf. Leute die meine Fotos von "früher" betrachten, sagen mir ich hätte glücklicher ausgesehen. Nein, meine Maske war glücklich. In Wirklichkeit sah ich mein Leben so vorgezeichnet und meine Zukunft grau in grau. Nur unser lieber Jehova möchte nicht das Zeugen Jehovas unglücklich sind. Er möchte das sie fröhlich sind und lachen. Und verdammt noch mal GERNE predigen gehen und sich GERNE aufgeben, sich GERNE hassen und GERNE leiden. Und wenn du es NICHT GERNE machst, dann ist dein Glaube nur Farce. Und sie müssen lachen, damit ja keiner auf die Idee kommen könnte das irgendwas nicht stimmt.
Ich setzte meine Maske ab, als ich am 22. August letzten Jahres ausgeschlossen wurde. Weil ich mich einem Mann hingegeben hatte. Ich wurde vor ein Inqisitions-ähnliches Gericht von 3 Männern gestellt, die mich ausfragten. Die meine "Zeugen-Aussagen" notierten und auswerteten. Die mich peinlich befragten.
"Welche Sexualpraktik habt ihr verwendet?"
"Habt ihr euch geküsst?"
"Mit Zunge?"
"Wie lange?"
Am Ende wurde mir eine Bibelstelle vorgelesen in der stand:
"Und ich werde keinen Umgang mit Hurern und Mördern haben"
"Wir werden dir im Namen der Versammlung XY die Gemeinschaft entziehen"
Da platzte ich. Ich stand auf, ging zur Tür, drehte mich um sagte mit stolzem Blick:
Ich werde niemals eine Zeugin Jehovas sein.
Das wars. Ich ging und kehrte nicht wieder. Langsam kämpfe ich mich zurück ins Leben. Ich habe meine liebste Freundin Franzi, die mir in allen Zeiten beistand und beistehen wird. Ich habe einen lieben anständigen Freund gefunden und endlich finde ich Zeit mich selbst zu entdecken und nicht irgendwelchen toten Propheten zu folgen.
Ich verurteile niemanden der sich entscheidet ein Zeuge Jehovas zu sein. Denn bei all der Häme, sie gehen ihren Weg und sie haben meine Hochachtung für all die Strapazen die sie für ihren Glauben auf sich nehmen. Ich kämpfe immernoch mit dem Versagensgefühl es nicht geschafft zu haben. Doch ich möchte gerne MEIN Leben führen und nicht in einem gleichgeschalteten Kollektiv leben. Ich, Chantal möchte geliebt sein. Und zwar nur für Chantal und nicht für "Zeugen Jehovas - Chantal". Es wird immer ein Teil meines Lebens sein. Dies zu akzeptieren, bringt mir ein ruhiges Gefühl. Doch es ist noch ein weiter Weg.